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Mehr Migrationshintergrund, weniger Stammtisch

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In Chemnitz mischt ein progressiver Verein den Amateurfußball auf. Athletic Sonnenberg heißt der Klub, der sich nicht nur dem Ballsport, sondern sozialer Gerechtigkeit verschrieben hat. Über 40 engagierte Fußballer unterstützen Kinder aus schwierigen Verhältnissen und setzen sich ganz praktisch für Integration ein.

Die Jungs rufen über das Spielfeld, beschimpfen sich gegenseitig, nur um Sekunden später wieder gemeinsam zu jubeln. Der Ton im Fußball ist eben manchmal etwas rauer. „Mach mal ein bisschen gesittet jetzt!“, fährt der junge Torwart seinen Teamkollegen an.

Auf den ersten Blick wirkt das Fußballtraining auf dem Chemnitzer Sportforum wie jedes andere. Aber etwas unterscheidet Athletic Sonnenberg von den meisten Vereinen im ostdeutschen Amateurfußball: die Herkunft der Spieler. Auf dem Spielfeld hört man eine Mischung aus Deutsch, Arabisch und osteuropäischen Sprachen. Ein großer Teil der Jungs im Alter von elf bis zwölf Jahren, die an dem wolkigen Sommerabend über den Kunstrasen rennen, bringt eine Migrationsgeschichte mit.

Über 40 verschiedene Nationen zusammen auf dem Fußballplatz
Einer von ihnen ist Adam. „Ich spiel’ Fußball, seit ich drei bin“, erzählt er selbstbewusst. Angefangen hat die Leidenschaft für den Sport im Libanon, aus dem der gesprächige Junge stammt. Er wolle Profifußballer werden, erklärt der Zwölfjährige mit den dunklen, zerzausten Haaren stolz, und gibt ein wenig damit an, dass ihn die Trainer für seine Leistungen auf dem Platz regelmäßig loben.
Athletic Sonnenberg ist „mehr als ein Sportverein“, heißt es in der Beschreibung der „Vereinsphilosophie“ auf der Website. Gegründet wurde der Klub 2020 mit einem klaren Wertekanon. Es gehe um „soziale Gerechtigkeit und die Interessen unterdrückter Gruppen“, um Solidarität und Inklusion. Athletic, das soll ein Verein für alle und jeden sein – unabhängig von Herkunft oder sexueller Orientierung zum Beispiel. Die Jugendmannschaften trainieren seit zwei Jahren. Daneben bietet der Verein noch Kampfsport- und Volleyballtraining sowie Lauf- und Radsporttreffs an.

Nicht nur Sport, sondern soziales Engagement
Was den Verein von anderen Fußballklubs abheben soll, ist aber vor allem sein Engagement für Kinder und Jugendliche aus problematischen sozialen Verhältnissen. Dass der Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg im Namen auftaucht, ist kein Zufall: Der Sonnenberg gilt seit Jahrzehnten als sozialer Brennpunkt. Hier leben besonders viele Menschen unter prekären Bedingungen. Wenn überhaupt, macht das Viertel Schlagzeilen mit Kriminalität, Gewalt oder rechtsextremen Vorfällen. Viele der jungen Spieler von Athletic wohnen hier, in einem Viertel mit besonders hohem Migrationsanteil. Eric Meisner kennt die Probleme der Kinder und Jugendlichen aus dem Quartier. In grauem Sweatshirt und Sport-Shorts schlendert der 31-Jährige auf den Kunstrasenplatz. Er ist erkältet, aber lässt es sich trotzdem nicht nehmen, vorbeizuschauen. Kaum ist er auf dem Platz, kommen einige Jungs auf ihn zu und begrüßen ihn freudig. Auch Adam will gleich zu „Meise“, wie die meisten ihn hier nennen.

„Für mich wäre kein anderer Verein infrage gekommen“
Meisner steht selbst seit seiner Kindheit auf dem Spielfeld und hat die Stimmung in anderen Vereinen erlebt. Zwar machen die Clubs wichtige Arbeit, wie er sagt, aber beim gemeinsamen Bier nach dem Spiel habe es Situationen gegeben, in denen er gedacht habe: „Leute, so ein Spruch, muss das jetzt sein?“ Er meint rassistische oder homophobe Aussagen, die nicht geahndet würden. Als er vor vier Jahren über Freunde von Athletic erfuhr, sei die Sache für ihn klar gewesen: „Für mich wäre kein anderer Verein infrage gekommen. Da will ich unbedingt hin.“

Eric ist der Jugendkoordinator der Fußballsparte von Athletic Sonnenberg. Er kümmert sich darum, dass die inzwischen sechs Jugendmannschaften des Vereins Trainingsplätze bekommen und genug Trainer vor Ort sind. Er selbst betreut auch ein Team. Der gebürtige Chemnitzer erlebt immer wieder, in welchen Verhältnissen viele seiner Schützlinge aufwachsen.

Nachwuchstalente aus problematischen Verhältnissen
„Wir haben 19 Kids bei mir in der D-Jugend und ich kenne effektiv drei Elternteile“, schildert er. Viele der Kinder kämen aus schwierigen Familien. Eric erzählt von Spielern, die schon mit 13 harten Alkohol trinken würden oder Probleme in der Schule hätten – unabhängig davon, ob sie eine Migrationsgeschichte haben oder nicht. Der Jugendtrainer betont zwar, dass das nicht die Mehrheit der jungen Sportler betreffe, aber er und die anderen Ehrenamtlichen im Verein müssten trotzdem mit solchen Fällen umgehen.

„Manchmal kommen wir zum Training und dann bringt einer gleich seine sechs Jahre jüngeren Geschwister mit, die eigentlich gar nicht in die Altersgruppe passen“, erzählt Eric. Viele der neuen Spieler hätten Probleme sich an Regeln und feste Zeiten zu halten, es gäbe Sprachbarrieren. Nicht wenige zeigten Verhaltensauffälligkeiten und seien aus anderen Vereinen ausgeschlossen worden. Einige Kinder hätten auch Mobbing erfahren, etwa aufgrund ihrer Herkunft.

Die Arbeit mit den Kindern mache das oft zur Herausforderung. „Es werden Fehler passieren und es werden mal schlimme Wörter fallen, es wird mal beleidigt“, aber das Wichtigste sei, das nicht im Raum stehen zu lassen, sondern über das Verhalten zu reden.

„Wir versuchen, über den Fußball
das Verhalten zu erreichen, was wir wollen“

Am Ende müsse man aber auch Konsequenzen ziehen, sagt Eric: „Also auch mal sagen: ‚Wenn das Verhalten nicht passt, kannst du am Wochenende nicht spielen.‘ Wir versuchen, über den Fußball das Verhalten zu erreichen, das wir wollen.“ Den Sport könne man so als Hebel nutzen, erklärt der Fußballtrainer. Einen Jungen, der regelmäßig die Schule schwänzte, habe er so motivieren können, wieder zum Unterricht zu gehen. Außerdem spürt er, dass er als Trainer ein besonderes Vertrauensverhältnis zu vielen der jungen Fußballer aufgebaut hat.

Eine Mischung aus Fußballtrainer und Sozialarbeiter dürfte das, was Eric Meisner und seine Trainerkollegen darstellen, gut beschreiben. Dieses Engagement will der Verein jetzt professionalisieren. Seit Kurzem beschäftigt Athletic Sonnenberg einen Sozialpädagogen in Vollzeit, der auch Einzel- und Elterngespräche führt. Neuerdings wird vor dem Training auch gepaukt: Bevor die Kinder auf das Spielfeld dürfen, bringen die Ehrenamtlichen sie zu Nachhilfestunden oder Deutschkursen. Die professionellen Unterrichtseinheiten werden aus der Vereinskasse gezahlt, genauso wie die Kleinbusse, die für die Aktion angeschafft worden sind. Dazu soll es künftig auch noch Bildungsreisen und Workshops geben. Man plant viel bei Athletic.

Fußballtrainer als Integrationshelfer
„Wir müssen doch als Gesellschaft daran interessiert sein, die Kinder abzuholen. Mit Sport trainiere ich nicht nur meine Muskeln, sondern ich lerne auch, mich in einer Gruppe zu verhalten“, findet Eric. „Ich lerne, mit anderen umzugehen, mit an deren Religionen, mit anderen Werten, mit anderen Menschen.“ Der Sport ist in seinen Augen auch ein ganz praktischer Weg zur Integration.

Schließlich funktioniere der Sport über Sprachbarrieren hinweg. „Man kann sich auf dem Fußballfeld, ohne ein Wort zu wechseln, trotzdem verstehen.“ Ganz niedrigschwellig, erklärt Eric, könne man so den Kindern und Jugendlichen helfen, sich in ihre neue Heimat einzufügen.

Integration, das bedeute für ihn Austausch, und den erreiche man, indem man Begegnungsorte schafft – etwa auf dem Rasen. Dabei würden auch die Kinder ohne Migrationsgeschichte viel lernen, sagt der Jugendtrainer. Die deutschen Spieler blieben so nicht in ihrer „sächsischen Bubble“. „Ein Problem ist, dass die Leute mit nicht-deutschen Personen keinen Kontakt haben.“ Das Resultat sei: eine unsichtbare Grenze zwischen den Menschen, Unverständnis und letztlich Wut.

„Niemand wird wegen seiner Nation diskriminiert“
Am Spielfeldrand unterhält sich Adam, der Junge aus dem Libanon, mit dem gleichaltrigen Aziz. Er wurde als Sohn palästinensischer Eltern in Ägypten geboren. Die beiden kennen den Verein über Freunde. Aziz erzählt, dass er vorher bei einem anderen Club gespielt hat, aber die Trainer seien nicht fair gewesen, zu streng. Bei Athletic sei das anders. Seine Mannschaft, die D-Jugend, sei ein richtiges Team: „Wir haben auch kein Problem damit, wenn ein Neuer kommt. Dann helfen wir ihm mit der Sprache. Hamza und Mustafa können kein Deutsch zum Beispiel.“

Zwar gäbe es manchmal Konflikte, „aber nur wegen Sport“, so Aziz. „Kinder wollen immer Stress“, fügt Adam hinzu und grinst vielsagend. „Aber niemand wird wegen seiner Nation diskriminiert“, ergänzt Aziz und wirkt dabei reifer als ein 12-Jähriger. In anderen Teams ist die Realität aber offenbar eine andere. David ist 14 Jahre alt und kommt aus Albanien. Oberkörperfrei steht er vor der Umkleide, auf der Brust ein faustgroßes Herz-Tattoo mit einem Frauennamen. Er wohnt auf dem Sonnenberg, sagt er, und deutet an, dass er die Probleme im Viertel zur Genüge kenne.

Die Trainer versuchen zwar, das Team zusammenzuschweißen, aber unter den Mitspielern, erklärt der sportliche Junge, sei man sich fremd. Die Fußballer würden nicht wie eine Mannschaft miteinander reden.

Grenzüberschreitungen sanktionieren
Die Arbeit mit den Jugendlichen, sagt Eric Meisner, sei „ein Prozess“. Ein Prozess, der anscheinend so schnell nicht endet. „Natürlich gibt es immer Reibereien. Wir haben manchmal nicht die einfachsten Kids vom Verhalten her.“ In der Vergangenheit seien auch rassistische und homophobe Beleidigungen untereinander gefallen, erzählt Meisner. „Es sind halt Kinder, die das teilweise im Elternhaus genauso vorgelebt bekommen. Ich kann ihnen da nicht böse sein. Es geht darum, einen anderen Weg aufzuzeigen.“ Bei solchen Fällen, betont er, werde das Training aber sofort unterbrochen, um das Problem zu klären.

Verein feiert sich mit Kinderfest
Einige Tage später veranstaltet Athletic Sonnenberg ein Kinderfest. Die Sonne knallt bei über 30 Grad auf den Sportplatz der Technischen Universität. Kleine Kinder jagen sich mit Wasserspritzen durch die Gegend, während ihre Eltern am Bierwagen oder Grillstand stehen. Matthias „Matze“ Keussen steht an einem der Fußballtore auf dem brütend heißen Kunstrasen und feuert ein paar Mädchen und Jungs beim Bolzen an.

Für den Vorsitzenden von Athletic Sonnenberg ist der Verein ein Herzensprojekt. Auf einem Oberschenkel trägt der 33-Jährige das Logo: eine aufgehende Sonne über einem Berggipfel. Matthias Keussen freut sich über den Erfolg des Vereins: „Diese Energie, die hier entsteht, das ist schon wirklich magisch.“ Die erste Herrenmannschaft ist schon zweimal in die nächsthöhere Liga aufgestiegen, und die Mitgliederzahl des Vereins wächst stetig. Dabei hatte der Verein – so nimmt nicht nur Matze es wahr – keinen guten Start mit der Stadtverwaltung und den offiziellen Stellen des Amateurfußballs. „Weil wir uns da nicht gehört gefühlt haben.“ Im Gegenteil: „Wir haben uns oft benachteiligt gefühlt“, erinnert sich der junge Mann mit Fünf-Tage-Bart und Sonnenbrille. Die Hitze lässt ihm den Schweiß von der Stirn laufen.

Gamechanger: ein eigener Sportplatz
Ein Problem: Der Verein musste lange Zeit um einen eigenen Sportplatz kämpfen. Bisher verteilten sich die Trainingseinheiten der verschiedenen Teams und Altersgruppen auf diverse Sportanlagen im ganzen Stadtgebiet. Für die Spieler und Trainer bedeutete das einen logistischen Aufwand, und viele im Verein werteten es als Zeichen, dass ihr Engagement im Rathaus und von den Sportfunktionären nicht ausreichend honoriert wird. Hinter vorgehaltener Hand sagen einige Vereinsmitglieder, dass ihnen bewusst Steine in den Weg gelegt würden. Als zu politisch, zu links nehme man ihre Arbeit wahr.

Aber offenbar ändert sich das, wie Matthias Keussen berichtet. Inzwischen hat Athletic einen Fußballplatz im Chemnitzer Süden zur dauerhaften Nutzung zugesprochen bekommen. „Das war eine brutal krasse Nachricht“, findet der Vereinschef. Es sei „der Traum“ aller gewesen, endlich „Trainingszeiten selber ansetzen“ und mehr Kindern und Jugendlichen den Sport ermöglichen zu können.

Autor:in

  • Tim Schulz

    Redakteur

    Wahl-Chemnitzer mit ostdeutschen Wurzeln: Seit zehn Jahren hier, halbtags beim MDR, ganztags mit trockenem Humor bewaffnet.

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