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Die Kulturhauptstadt kämpft mit 166-Millionen-Haushaltsloch

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Chemnitz hat sich selbst einen Sparkurs verordnet, um handlungsfähig zu bleiben – mit harten Einsparungen im Sozialbereich und der Kultur. Zwar genehmigte die Landesdirektion den Doppelhaushalt für die Jahre 2025/26. Das täuscht aber nicht über ein viel größeres Problem hinweg: Das Defizit wird laut Prognosen auf 700 Millionen Euro steigen. Die Kassen sind langfristig leer – wie in vielen anderen Orten auch. Die Unterfinanzierung der Kommunen gefährdet die Demokratie, warnt Finanzbürgermeister Ralph Burghart.

Chemnitz ist Kulturhauptstadt und damit kulturelles Aushängeschild Europas. Während es in den Tagen der Eröffnung draußen glitzerte und glänzte, saßen Chemnitz‘ Finanzbürgermeister Ralph Burghart und mit ihm viele andere mit Sorgenfalten beim Tagesgeschäft. Satte 166 Millionen Euro Defizit weist die Stadtkasse für die Jahre 2025 und 2026 auf1 – Tendenz steigend. Burghart warnte, trommelte alle zusammen, war der Überbringer der schlechten Botschaft. Kein Geld, nirgendwo. Schließlich gelang es, nach langem Ringen, vielen Diskussionen und auch Ernüchterung, den Stadtrat auf einen Kompromiss zu vereinen. Im Juni genehmigte die Landesdirektion den Doppelhaushalt mit rigiden Sparmaßnahmen und einer Fünf-Prozent-Haushaltssperre. Um nicht zahlungsunfähig zu werden, behält Chemnitz also vorerst fünf Prozent des Budgets ein.

„Wir sind die einzige Kommune Sachsens, die eigenständig Sparmaßnahmen auf den Weg gebracht hat. Ich bin stolz, dass uns das gelungen ist – obwohl die Wünsche im Stadtrat weit auseinander lagen“, erklärt Ralph Burghart. Er hatte schon im September wegen der Misere Alarm geschlagen und alle an einen Tisch geholt. Er wollte nicht riskieren, dass die Landesdirektion den Haushalt nicht genehmigt. Denn, so sagt er: „Dann machen wir alles doppelt und verlieren wertvolle Zeit.“

Um das Haushaltsloch zu stopfen, setzte die Stadt den Rotstift in erster Linie bei sich selbst an. Ganze 15 Millionen Euro möchte sie von 2025 bis 2029 an Personalkosten sparen – ohne betriebsbedingte Kündigungen, sagt Tobias Porges, Referent für Haushalt und Finanzen. Investiert werde nur in das „Allernotwendigste“. Ein zweiter Schließtag in den städtischen Museen spart 800.000 Euro, die Nachverhandlung der Fernwärme hat 640.000 Euro Ersparnis gebracht.

An der Haushaltssperre kam die Stadt dennoch nicht vorbei. „Damit wir zahlungsfähig bleiben, mussten wir die Fünf-Prozent-Haushaltssperre setzen. Ich hoffe, wir können diese bald aufheben, wenn Zuschüsse vom Land kommen“, sagt Haushaltsreferent Porges. „Bis jetzt haben wir jedoch keine Kenntnisse, ob und mit welchem Geld wir durch den Sachsenfonds rechnen können.“ Die Zuschüsse sind auch wichtig, weil Chemnitz ohne diese Ende des Jahres schlichtweg nicht mehr flüssig sein wird. „Wenn wir den Werteverzehr betrachten und die daraus bedingte perspektivisch notwendige Kreditaufnahme, sehen wir im Finanzhaushalt, dass 2025 geplant 78,6 Millionen Euro und im Jahr 2026 etwa 117,5 Millionen Euro abfließen“, sagt Porges. „Ohne zusätzliche Mittel des Bundes und des Freistaates wird unser Geld am Ende dieses Jahres aufgebraucht sein.“

Die Einschnitte in vielen sozialen Vereinen und Kultureinrichtungen sind empfindlich, nicht zuletzt wegen der immensen Teuerung. Trotzdem scheinen viele erst einmal erleichtert. „Wir waren von der Schließung bedroht. Um das Haus zu retten, haben wir den Kürzungen und Sparauflagen zugestimmt“, erklärt das Frauenzentrum Lila Villa. Die Hürde sei genommen, die Lila Villa werde es weiter geben. „Bis die nächste Kürzungswelle kommt – dieses Bangen bleibt und das ist beängstigend.“ Leider habe man auch Angebote zurückfahren müssen. „Wir kompensieren, wo wir können. Mit Überstunden, Ehrenamtlern, Helfern. Doch um alle Angebote zu halten, reicht es nicht“, hieß es.

Dieses Problem kennt auch Alfred Mucha, Leiter der Wohnungsnotfallhilfe und Psychosozialen Dienste der Stadtmission Chemnitz. Obwohl die Grundfürsorge für Obdachlose nach Sozialgesetzbuch eine Pflichtaufgabe des Staates ist, musste auch er Öffnungszeiten einkürzen. Obdachlose können täglich nur noch bis 14.30 Uhr in der Mission duschen, etwas essen, ihre Wäsche waschen, ihre Post abholen – oder sich kurz von Hitze, Regen oder Kälte erholen. Am Wochenende bleibt der Tagestreff geschlossen. Und trotzdem ist Mucha froh, dass es nicht schlimmer gekommen ist. „Das Sozialamt spart bei einem anderen Projekt, somit können die Fünf-Prozent-Kürzungen der Haushaltssperre kompensiert werden“, sagt er.

„Wir ermöglichen Obdachlosen, bei uns eine Postadresse einzurichten und somit den Teufelskreis zwischen Wohnungs-, Mittel- und Arbeitslosigkeit zu durchbrechen.“ Die Menschen, die in den Tagestreff kommen, lebten teilweise in Abrisshäusern. „Niemand ist gefeit vor diesem Schicksal, egal aus welcher gesellschaftlichen Schicht, wir haben schon alles erlebt, es kann jeden treffen“, sagt Mucha. Seine Mitarbeiter betreuen auch die Bahnhofsmission, arbeiten als Straßensozialarbeiter und helfen Obdachlosen bei der Verwaltung und Suche nach einer Wohnung.

Wie viele Menschen sind in Chemnitz obdachlos? „Es ist schwierig, Obdachlosigkeit einzuschätzen“, sagt Mucha. „Bei uns haben aktuell 128 Menschen ohne Wohnung eine Postadresse. Das sind fast doppelt so viele Hilfsbedürftige wie 2022.“ Damals seien es noch 72 gewesen. „Fest steht, wir haben viel mehr Leute, die sich in ein noch engeres Zeitfenster der geminderten Öffnungszeiten drängen“, bilanziert Mucha.

Über die ganze Situation kann Tolga Cerci, Stadtteilmanager auf dem Chemnitzer Sonnenberg, nur den Kopf schütteln. Er sieht in den Kürzungen einen riesigen Fehler. „Akteure im Sozialbereich sind seit mehr als einem Jahrzehnt finanziell unter Druck, schon die Kürzungen der Vergangenheit haben die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert“, sagt er. „Irgendwann kippt die Situation. Die Qualität der Sozialarbeit leidet schon jetzt massiv; die Spielräume zum Sparen sind seit Jahren ausgeschöpft.“

Sind die Kürzungen trotz allem alternativlos? „Ja, unsere Sparmaßnahmen sind alternativlos, nur wenige Aufgaben einer Kommune sind freiwillig, Jugendarbeit und Kultur gehören dazu“, sagt Haushaltsreferent Porges. Die Stadt sei an das Kommunalrecht gebunden. „Wenn wir Jugendarbeit im Haushalt stärken wollen, brauchen wir Wirksamkeitsstudien mit validen Daten, wie viel Geld die Stadt durch Prävention bei den Sozialkosten spart. Mit solchen Studien wäre vielen Kommunen geholfen, sie könnten ganz anders Schwerpunkte setzen.“

Doch woher kommen die immensen Defizite? „Wir spüren die Auswirkungen multipler Krisen“, sagt Finanzbürgermeister Burghart. „Sowohl die Corona-Pandemie als auch der Krieg gegen die Ukraine haben enorme Auswirkungen.“ Die Inflation, viel höhere Kosten für Energie und Bauprojekte und gravierend höhere Sozialkosten sowie letztlich auch die Tarifsteigerungen hätten zu hohen Mehrkosten geführt. Zwar hätten Gewerbesteuer und Zuwendungen vom Land auch mehr Einnahmen in die Kasse gespült, „doch das reiche bei Weitem nicht, um die Mehrausgaben zu decken“.

Burghart sieht das viel größere Problem erst noch kommen. „In der Vorausschau werden die Einnahmen sinken, die Wirtschaftsprognosen sind schlecht. Das Haushaltsloch wird immer größer. Bis 2029 rechnen wir mit einem Defizit von 700 Millionen Euro”, erklärt der Finanzbürgermeister und faltet die Hände zusammen. Schon liegt die Stirn wieder in Sorgenfalten. Kein Geld, nirgends, auch in Zukunft.

Für Burghart ist seine leere Stadtkasse symptomatisch und gefährlich. „Die Krise und Unterfinanzierung der Kommunen ist mittlerweile überall angekommen. Auch Leipzig und Dresden, die ja viel stärker aufgestellt sind, kämpfen mit ihren Finanzen“, warnt der Kommunalpolitiker. „Wenn wir nicht handeln und Kommunen besser ausstatten, kriegen wir ein großes Demokratieproblem. In vielen ländlichen Räumen ist das schon ganz deutlich zu sehen. Je drastischer der Sparkurs, desto größer wird der Raum für Demokratiefeinde und ihre einfachen Lösungen.“ Leere Kassen, flächendeckend, überall – für Burghart ist auch dies ein Grund für den Rechtsruck in Sachsen und Deutschland.

Der Bürgermeister appelliert an den Bund, dringend zu handeln. „Ich sehe nicht ein, dass ich als Kommune für die Wünsche des Bundes bezahlen soll“, sagt er. „Wer bestellt, muss bezahlen. Bund und Land müssen viel stärker in die Pflicht genommen werden.“ Damit steht er nicht allein. Schon im Dezember warnte der Sächsische Städte- und Gemeindetag (SSG), die Kommunen befänden sich in einem „Ausnahmezustand“.2 Insgesamt summieren sich die Jahresdefizite der Städte und Gemeinden in Sachsen auf mehr als eine Milliarde Euro.

Aus Protest gegen die Kürzungen in der Kultur besetzte im Mai ein Aktionsbündnis das Schauspielhaus in Chemnitz. Das Sparprogramm trifft auch viele Kulturschaffende hart. Der Chemnitzer Club „Weltecho“ etwa muss rund 20 Prozent seiner Kosten einsparen und überlegt, sein Kino einzustellen. Es stand sogar im Raum, dass einer der acht Angestellten entlassen wird.3 Auch das Museum Gunzenhauser, das vor Kurzem die hochgelobte Ausstellung „European Realities“ zur Neuen Sachlichkeit zeigte und jetzt mit Edvard Munch brilliert, muss wie alle anderen Museen der Stadt ab Januar einen zweiten wöchentlichen Schließtag einführen.4 Damit haben die Einschnitte auch die Kulturhauptstadt erreicht.

+++ Update +++

🛠️ Nach der Konferenz der ostdeutschen Städte in Suhl fordert der Deutsche Städtetag Tempo beim Sondervermögen für die Infrastruktur. Besonders Ost-Städte und Gemeinden seien darauf angewiesen. Es müssten jetzt zügig Landesgesetze geschaffen werden und das Geld schnell in die Kommunen fließen. „Die Bundesländer können und sollten schon jetzt die Landesgesetze zum Sondervermögen in Angriff nehmen und vorbereiten, denn wie viel die einzelnen Länder vom Bund bekommen werden, steht bereits fest. Es braucht jetzt Nägel mit Köpfen, auch auf Landesebene“, forderte Burkhard Jung, Präsident des Deutschen Städtetages und Oberbürgermeister der Stadt Leipzig.

👉 Die Städte stecken Jung zufolge „in einem historischen Rekorddefizit von bundesweit rund fast 25 Milliarden Euro allein im letzten Jahr“. Besonders die Situation der Städte in Ostdeutschland werde immer schwieriger. „Selbst die Kredite zur Finanzierung von Investitionen in Schulen können manche Städte nur noch mit Sondergenehmigungen aufnehmen“, sagte Jung. „Und das, obwohl der Investitionsstau in den Kommunen schon jetzt riesig ist. Bundesweit beträgt er fast 216 Milliarden Euro – den größten Investitionsbedarf haben wir bei Schulen und Straßen.“

💵 Jung warnte aber auch: „Das Sondervermögen darf kein Ersatz für reguläre Mittel sein.“

  1. Stadt Chemnitz: Freistaat genehmigt Doppelhaushalt 2025/2026, auf: chemnitz.de (13.6.2025). ↩︎
  2. MDR Sachsen: Sachsens Kommunen erstmals mit gut einer Milliarde im Minus, auf: mdr.de (30.12.2024). ↩︎
  3. Sächsischer Städte- und Gemeindetag: Kommunales Defizit erstmals über eine Milliarde Euro auf: ssg-sachsen.de (29.12.2024). ↩︎
  4. E-Mail des Museum Gunzenhauser Chemnitz. ↩︎

Autor:in

  • Portrait Katrin

    Redakteurin

    Thüringer Original mit reichlich Journalismuserfahrung und einer besonderen Stärke: Auch in der Deadline-Hölle noch für einen Witz zu haben.

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